Empörung als Lifestyle
Die moderne Welt scheint von einer besonderen Dynamik beherrscht: dem ständigen Ruf nach Anerkennung. Im Zuge der Wokeness-Bewegung verschmilzt dieser Ruf zunehmend mit einer subtilen, aber tief verwurzelten Form des Narzissmus. Dabei ist der Grundgedanke der Wokeness – soziale Gerechtigkeit und Inklusion – eigentlich ehrenhaft. Doch was passiert, wenn er zum Deckmantel für verletzte Eitelkeiten wird? Ein Paradebeispiel ist die Geschichte eines non-binären Youtubers vietnamesischer Herkunft, der sich öffentlich darüber empört, dass eine Mitarbeiterin eines Telekommunikationsanbieters seinen/ihren/them vietnamesischen Namen falsch ausgesprochen hat. Eine Korrektur oder ein Hinweis reicht dort natürlich nicht. Mit hochgezogener Augenbraue wird erklärt, dass die falsche Aussprache des Vietnamesischen Namens ein massiver persönlicher Angriff ist.
Der Name als Symbol – und das Problem mit der Realität
Namen haben Bedeutung, sie tragen Identität und Kultur. Unser Youtuber erklärt, dass der Vorfall ihn/sie/them tief verletzt habe – eine Beleidigung seiner/ihrer Identität, ein Beweis systemischer Ignoranz, eines Privilegs. Doch wie überzeugend ist diese Annahme? Würde der gleiche Standard auch für Anette gelten, deren Name eigentlich als „Anett“ ausgesprochen wird? Wie wäre das als Besucher/Gast der Vietnamesischen Kultur? Oder für Jörg, den man immer englischsprachigen Raum als „George“ adressiert? Vermutlich nicht.
Was in solchen Fällen deutlich wird, ist weniger ein Anspruch auf Gerechtigkeit, sondern ein Anspruch auf Sonderbehandlung – eine narzisstische Forderung nach der absoluten Anerkennung der eigenen Einzigartigkeit.
Privilegien neu gedacht: Die Opferrolle als Machtinstrument
Die moderne Empörungskultur hat ein eigenes Privileg geschaffen: das Recht auf absolute Aufmerksamkeit. Sich dann als Opfer eines großen, systemischen Problems zu inszenieren, verleiht nicht nur moralische Höhen, sondern auch eine unvergleichliche Plattform. Die Geschichte des falsch ausgesprochenen Namens ist dabei kein Einzelfall. Sie reiht sich ein in eine lange Liste von vermeintlichen Mikroaggressionen, die als große soziale Ungerechtigkeiten verkauft werden.
Hier zeigt sich ein interessantes Muster: Der Weg zur moralischen Überlegenheit führt über die Betonung der eigenen Verletzlichkeit. Je subtiler das „Unrecht“, desto ausgefeilter die Rhetorik, um es als globales Problem darzustellen. Eine falsch ausgesprochene Silbe wird zur symbolischen Gewalttat, der Kundendienst-Mitarbeiter zum Repräsentanten eines diskriminierenden Systems.
Der Zirkus der sozialen Medien
Die sozialen Medien spielen dabei eine entscheidende Rolle. Sie sind die perfekte Bühne für diese Inszenierungen. Ein Tweet, ein TikTok-Video, ein Instagram-Post – und schon hat der Skandal ein Millionenpublikum. Der Algorithmus belohnt das Drama, die Empörung bringt Klicks. Es geht nicht mehr darum, eine Lösung zu finden, sondern darum, die eigene Geschichte möglichst laut zu erzählen.
Unser Youtuber schildert, wie der Vorfall ihn/sie/them tagelang beschäftigt hat. Die Aussagen der Telekommunikationsmitarbeiterin „wären ein Spiegel der Ignoranz“ und hätten ihn/sie/them emotional an die Grenzen gebracht. Doch wäre es nicht einfacher gewesen, diesen Moment als das zu sehen, was er ist: eine Kleinigkeit, aus Unkenntnis ohne böse Absicht? Und wie einfach wäre es gewesen, einfach die richtige Aussprache zu erklären? Aber daraus lässt sich ja kein Kapital schlagen.
Wokeness als narzisstisches Werkzeug
Die Verbindung zwischen Wokeness und Narzissmus wird an solchen Beispielen besonders deutlich. Während Wokeness ursprünglich für Sensibilität und Empathie stand, wird sie hier zur Plattform, um persönliche Befindlichkeiten über gesellschaftliche Realitäten zu stellen.
Ein narzisstischer Mensch hat ein übersteigertes Bedürfnis nach Anerkennung und Bewunderung. Gleichzeitig fehlt es oft an Fähigkeit zur Selbstkritik und zur Akzeptanz von Imperfektion – sei es bei anderen oder bei sich selbst. Wokeness bietet in ihrer extremen Ausprägung eine perfekte Bühne, um dieses Bedürfnis zu befriedigen: Jeder Fehler anderer wird zu einem Angriff auf die eigene Identität, jede vermeintliche Ungerechtigkeit zu einem persönlichen Triumphzug.
Die Überforderung der Gesellschaft
Es bleibt die Frage: Wie soll eine Gesellschaft mit solchen Ansprüchen umgehen? Sind wir verpflichtet, jeden noch so kleinen Anspruch auf Anerkennung zu erfüllen? Oder sollten wir uns wieder darauf besinnen, dass soziale Interaktionen immer auch von Toleranz und Nachsicht geprägt sein müssen – nicht nur auf der einen, sondern auch auf der anderen Seite?
Der Mitarbeiterin des Telekommunikationsanbieters kann man kaum vorwerfen, dass sie nicht wusste, wie man einen seltenen vietnamesischen Namen korrekt ausspricht. Doch der Youtuber, der den Vorfall zu einem symbolischen Kampf erhebt, zeigt: Es geht nicht um Verständnis, sondern um Dominanz. Die Botschaft ist klar: „Ihr müsst euch an mich anpassen, nicht umgekehrt.“
Der Anspruch, in jeder Interaktion perfekt behandelt zu werden, ist eine Illusion. Er ist nicht nur unrealistisch, sondern auch hinderlich für echtes Verständnis. Die Verbindung von Wokeness und Narzissmus entwertet die ursprünglichen Ziele der Bewegung und macht sie zu einem Werkzeug für individuelle Eitelkeiten.
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