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Die unantastbaren Regeln

Die Regeln sind klar, auch wenn sie nie offiziell verkündet wurden. Sie flüstern in Meetings, schreien in sozialen Medien und donnern bei jedem öffentlichen Fauxpas: Sei korrekt, aber nicht zu direkt. Sprich, aber nur mit den richtigen Worten. Und vor allem: Widersprich nie, außer denen, die als Unterdrücker definiert wurden. Willkommen im Zeitalter in der Sprache Waffen sind und Meinungen Minenfelder.

Überkorrektheit ist die neue Tugend, aber sie ist eine Tugend mit scharfen Zähnen. Es reicht nicht mehr, tolerant zu sein – du musst sichtbar tolerant sein. Deine Worte, deine Gesten, selbst dein Schweigen werden auf die Goldwaage gelegt. Sagst du „Frauen“, ohne trans Frauen explizit einzuschließen? Problematisch. Machst du einen Witz, der vor zehn Jahren harmlos war? Unverzeihlich. Die Standards verschieben sich ständig, und das ist kein Zufall: Die Unklarheit hält die Machtstrukturen aufrecht.

Die Sprachpolizei hat Hochkonjunktur. Wörter werden umgedeutet, gestrichen oder neu erfunden. Es gibt keine Diskussion darüber, ob diese Änderungen sinnvoll sind – sie werden einfach durchgesetzt. Die Sprache soll nicht nur respektvoller werden, sondern auch ideologisch korrekt. Und wer sich weigert, wird öffentlich zur Rechenschaft gezogen. Es ist ein moderner Pranger, bei dem Likes und Retweets das Urteil vollstrecken.

Ein Paradebeispiel ist die Jagd nach Mikroaggressionen, jenen kleinen, oft unbeabsichtigten Verstößen gegen die woke Etikette. Ein falscher Ausdruck, ein unüberlegter Kommentar, ein traditionelles Kompliment – all das wird als Beweis für unterbewusste Vorurteile oder systemische Diskriminierung gewertet. Es geht nicht mehr um die Absicht, sondern nur noch um die Wirkung. Die Suche nach Unterdrückern wird so zur endlosen Mission. Jeder kann schuldig sein, und das macht die Macht der Ankläger absolut.

Doch die Dynamik geht über Sprache hinaus. Unternehmen verpflichten sich zu Diversity-Programmen, die oft mehr Marketing als echte Veränderung sind. Universitäten schreiben Leitlinien vor, die Debatten im Keim ersticken. Selbst in der Popkultur wird die Regelbuchmentalität sichtbar: Filme, Bücher und Serien werden nicht nach ihrer Qualität bewertet, sondern danach, ob sie die richtigen Botschaften transportieren.

Das Problem dabei ist nicht der Wunsch nach mehr Gerechtigkeit oder Respekt. Es ist die Art und Weise, wie diese Ziele verfolgt werden. Die Ideologie der Wokeness ist kompromisslos und unantastbar. Sie duldet keine Grauzonen, keine Fehler, keine Diskussion. Kritik an ihr wird nicht als zumindest diskutabler Einwand gesehen, sondern als niederträchtiger Angriff auf die Werte der Gerechtigkeit selbst.

So entsteht eine Gesellschaft, die sich ständig selbst überwacht, ständig neue Grenzen zieht und ständig neue Schuldige sucht. Und genau das ist das Ziel: Eine Ideologie, die sich durch Angst und Schuld stabilisiert, braucht immer neue Sündenböcke, um sich zu legitimieren.

Die unantastbaren Regeln sind nicht nur ein Regelwerk, sondern ein Machtinstrument. Sie geben denen, die sie kontrollieren, die Möglichkeit, jeden Aspekt des öffentlichen und privaten Lebens zu dominieren. Und während die meisten Menschen versuchen, irgendwie mitzuhalten, fragen sich immer mehr leise: Wie lange kann das gut gehen?

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