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Die Heuchelei der Anspruchslosigkeit: Du bist gut genug.

Die Maxime „Du bist gut genug“ klingt wie ein wohlklingender Gong, der den Stress aus den Seelen der Leistungsgesellschaft herausmassieren soll. Man hört sie in Workshops, liest sie in Instagram-Posts und begegnet ihr in den Vorwörtern von Selbsthilfebüchern. Doch was bedeutet diese Botschaft wirklich – und warum erscheint sie bei genauerem Hinsehen wie eine leere Worthülse?

Es ist kein Geheimnis, dass der gesellschaftliche Fokus auf Profit, Wachstum Selbstoptimierung und Äußerlichkeiten uns alle zunehmend unter Druck setzt. Doch das vermeintlich revolutionäre Gegenkonzept – die Abkehr von der Leistungsgesellschaft – ist nur eine weitere Illusion. Denn die Ansprüche derer, die uns „Du bist gut genug“ entgegenflöten, decken sich keineswegs mit der Botschaft, die sie predigen. Während sie lauthals Degrowth proklamieren und ein vermeintlich entspanntes Leben in Aussicht stellen, hält ihr eigener Anspruch an andere davon wenig.

Die Dissonanz der Anspruchslosigkeit

Wer „Du bist gut genug“ sagt, suggeriert Akzeptanz – Akzeptanz der eigenen Unvollkommenheit, der Schwächen, des Alltagsversagens. Doch ist das wirklich die gelebte Philosophie dieser Botschaftsträger? Kaum. Denn der Mensch, der diese Maxime propagiert, erwartet zugleich Perfektion: perfekte Work-Life-Balance, perfekte Minimalismus-Ästhetik, perfekte Gedankenkohärenz in einer Welt voller Widersprüche. Man soll zufrieden sein – aber auch kritisch. Genügsam – aber bewusst konsumieren. Sich selbst lieben – und trotzdem weiterentwickeln. Diese innere Dissonanz macht die Message zur Farce.

Degrowth – nur bis zur Haustür

Ein weiteres Paradoxon offenbart sich in der Degrowth-Bewegung, die von den gleichen Kreisen propagiert wird. Die Idee, sich von Wachstum und Profitmaximierung zu lösen, mag auf dem Papier verlockend klingen. Weniger arbeiten, weniger konsumieren, dafür mehr Zeit für Familie und Hobbys. Doch wie oft gilt dieses Prinzip wirklich für die eigene Lebensrealität?

Die Wahrheit ist: Degrowth wird als moralisches Feigenblatt vorgezeigt, während im Hintergrund Luxus, Komfort und Statussymbole weiter Priorität haben. Das alte iPhone wird natürlich durch das neueste nachhaltige Modell ersetzt, die Yoga-Retreats finden nach wie vor auf Bali statt, und das Tiny House hat eine perfekt designte Küche, deren Kosten die eines Einfamilienhauses sprengen. Degrowth, so scheint es, gilt immer nur für „die anderen“ – nicht für die eigenen Ambitionen oder Lebensstandards.

Was bleibt vom Leistungsgedanken?

In der Tat ist die Leistungsgesellschaft nicht perfekt. Burnout, Überforderung und der Zwang zur ständigen Erreichbarkeit sind real. Doch die komplette Abkehr von Leistung und Anspruch – falls sie überhaupt ernst gemeint ist – führt zu einer Gesellschaft, die weder ihre Wirtschaftskraft noch ihren Innovationsgeist aufrechterhalten kann. Der Gedanke, dass alle Menschen „gut genug“ sind, mag in der Theorie wunderbar klingen, vernachlässigt aber eine wichtige Wahrheit: Fortschritt entsteht nicht durch Stillstand. Wer die Latte für sich selbst absenkt, sollte nicht erwarten, dass andere sie überhaupt noch sehen.

Und genau hier liegt der Kern der Heuchelei: Diejenigen, die „Du bist gut genug“ propagieren, erwarten von der Gesellschaft etwas anderes. Sie wollen gute Infrastruktur, leistungsstarke Medizin, innovatives Design und inspirierende Kunst. Sie erwarten saubere Straßen, schnelle Internetverbindungen und hochwertige Bildung. All dies basiert auf Leistung – der von anderen.

Die unausgesprochene Elite

Ein weiterer Aspekt, den man nicht übersehen sollte, ist die stille Elite, die aus der Abkehr von der Leistungsgesellschaft hervorgeht. Denn während der Durchschnittsbürger aufgefordert wird, sich mit weniger zu begnügen, ziehen diejenigen, die diese Ideologie predigen, daraus Vorteile. Sie haben die Möglichkeiten, ihren Kindern exklusive Bildung zu bieten, können sich bioregionale Produkte leisten und ihre persönlichen Widersprüche mit ästhetisch aufbereiteten Instagram-Posts kaschieren. Wenn Minimalismus, heisst, sich im Flur der Eigentumswohnung im Prenzlauer Berg auf nur ein Sideboard von UMS-Haller zu beschränken und darauf nicht mehr zu haben als ein paar Deko-Stücke vom letzten Japan-Trip zu haben, funktioniert das nur im seltenen Fall, ohne dass der Scheiss-Kapitalist Papa diese Ressourcen zur Verfügung stellt, die die sogenannten Durchschnittsbürger in Papas Unternehmen erwirtschaften.

Die Botschaft „Du bist gut genug“ ist daher weniger eine Einladung zur Selbstakzeptanz als eine Strategie zur Stabilisierung von Ungleichheit. Sie entlässt den Einzelnen aus der Verantwortung, mehr zu erreichen, während die Elite weiterhin von den Errungenschaften der Leistungsgesellschaft profitiert.

Ein neuer Blick auf Anspruch und Leistung

Was wäre die Alternative? Eine Gesellschaft, die Leistung nicht um ihrer selbst willen zelebriert, aber sie auch nicht verteufelt. Eine Kultur, in der der Anspruch an sich selbst keine überhöhte Erwartung, sondern eine Frage der Selbstachtung ist. Statt die Latte zu senken, sollten wir sie so setzen, dass sie für jeden erreichbare Herausforderungen bietet – ohne dabei die Lebensrealitäten anderer zu ignorieren.

Das wahre Problem ist nicht die Leistungsgesellschaft an sich, sondern der Missbrauch von Narrativen wie „Du bist gut genug“ oder „Degrowth“ als moralische Deckmäntel. Es ist an der Zeit, diese Widersprüche offen zu benennen und eine ehrlichere Diskussion über die Balance zwischen individueller Genügsamkeit und gesellschaftlicher Verantwortung zu führen. Denn eines ist sicher: Du bist gut genug. Aber nur, wenn du dir selbst nichts vormachst.